Auszug aus Kapitel 1

Auszug aus Kapitel 4




Auszug aus Kapitel 1

Teil 1 (Spezielle Relativitätstheorie)

Der Schlüssel zum Relativen Raum

Nachdem sie in einer Sitzecke der Bibliothek Platz genommen hatten, begann Leonardus mit den Worten: "Auch wenn es dich vielleicht am meisten interessiert, was es mit dem exotischen Tunnel auf sich hat, müssen wir uns zuerst über Begriffe wie "Raum" und "Zeit" Gedanken machen. Und jetzt paß gut auf! Bevor ich mit der ersten Lektion anfange, mußt du den Schlüssel zum "Relativen Raum" finden. Ich gebe dir noch den Tip, die Suche auf mein Schloß zu begrenzen. Als Hilfsmittel darfst du den Zauberstab benutzen, den du bereits in deinen Händen hältst. Er wird dir zwar nicht ermöglichen, den erwünschten Schlüssel herbeizuzaubern, aber er wird dir auf der Suche hilfreich sein."

Mit offenem Mund stand Kasim da und wußte nicht so recht, was er sagen sollte. Der Zauberer hatte ihm doch eine Lektion versprochen und für ihn war klar, daß es um Zaubertricks gehen würde und nicht darum, einen Schlüssel zu suchen. So sprach er:

"Ich möchte Ihnen gar nicht so viele Umstände machen und nur eine klitzekleine Zauberformel lernen! Dann müssen Sie nicht so viel Zeit verschwenden und ich kann bald wieder nach Hause."

"So einfach, wie du dir das jetzt noch vorstellst, geht das "Zaubernlernen" leider nicht! Zumindest nicht bei mir! Ich lege großen Wert darauf, zuerst solide Grundlagen zu lehren. Alles andere fällt dir dann wie von alleine zu. - Wenn du dir aber nur schnell ein paar billige Taschenspielertricks aneignen möchtest, mußt du dir einen anderen Lehrer suchen!"

Das waren deutliche Worte. Kasim sah ein, daß er sich wohl für einen Weg entscheiden mußte. Taschenspielertricks kannte er schon zu genüge, aber das war noch lange nicht richtiges Zaubern! Außerdem interessierte er sich brennend für naturwissenschaftliche Themen. Wenn er beides lernen könnte, wäre es vielleicht einen größeren Aufwand wert.

"Können Sie mir dann auch erklären, was es mit Schwarzen Löchern und Zeitreisen auf sich hat?" war somit seine nächste Frage.

"Genau das gehört zu meinem Unterricht! - Wenn du willst, kannst du dir erst mal eine Probelektion anhören."

Das klang nach einem fairen Angebot und so willigte er ein.

"Na schön, ich werde es probieren. Was muß ich als Erstes tun?"

"Zuerst mußt du den Schlüssel zum "Relativen Raum" finden, da wir uns Gedanken zu Raum und Zeit machen. Es werden Fragen auftauchen wie: Was ist ein Raum überhaupt? Wie steht er mit anderen Räumen in Beziehung? Und vieles mehr ... ." Dann nahm er Kasim an der Hand und flüsterte ihm ins Ohr: "Du kannst in Zukunft einfach Leonardus zu mir sagen. - Und nun mache dich auf die Suche!"

Kasim war stolz, daß der Zauberer ihm das Du anbot und machte sich freudig auf den Weg. Obwohl er nicht so recht wußte, was Leonardus mit den verschiedenen Räumen meinte, war er sich sicher, daß es gar nicht so schwer sein konnte, einen Schlüssel zu einem Raum zu finden, der sich darüber hinaus noch innerhalb dieses Schlosses befand.

Zunächst wollte Kasim in der Schatzkammer nachsehen, da er dort die wertvolleren Dinge des Schlosses vermutete. Er stieg hinab in das Kellergewölbe, das ihm bald wie ein endloses Labyrinth vorkam. Nach einiger Zeit stand er vor einer mächtigen mit schwerem Eisen beschlagenen Tür, welche nicht verriegelt war. Er öffnete sie und eine Unzahl von Säcken, gefüllt mit Gold, Silber und wertvollen Edelsteinen, erstreckte sich zu seinen Füßen. Noch nie in seinem Leben hatte er so viele Reichtümer an einem Ort gesehen. Neben den Säcken entdeckte er auch zauberhafte Schatztruhen, in denen goldene Schlüssel steckten. Vielleicht, so hoffte er, befand sich der Schlüssel zum Relativen Raum unter ihnen. Aber woher sollte er wissen, welcher der richtige war? Alle sahen sie etwa gleich aus! Weiterhin stellte sich die Frage, auf welche Weise könnte ihm jetzt der Zauberstab behilflich sein?

Kasim nahm einen der goldenen Schlüssel und drehte ihn um. Er paßte genau ins Schloß, denn die Schatztruhe sprang sofort auf und herrliche Perlen, sowie Diamanten aller Art blitzten ihm entgegen. Der gleiche Schlüssel paßte jedoch nicht in die anderen Schlösser; jeder Schlüssel paßte nur in sein eigenes Schloß, so, wie es sich auch gehörte. Da kam ihm eine Idee. Die Form des Schlüssellochs verriet die Form des Schlüssels und somit welcher Schlüssel zu welchem Schloß gehörte. Wenn er das Schlüsselloch zum Relativen Raum fände, wäre er dem gesuchten Schlüssel schon ein großes Stück näher. Doch wo sollte er um Himmels Willen nach dem richtigen Schlüsselloch suchen? Vielleicht brachte ihn der Zauberstab weiter! Dieser war etwa eine Elle lang und sein roter Glanz ließ eine besondere Edelsteinart vermuten. Wahrhaftig, er machte einen so edlen Eindruck, daß es kaum aufgefallen wäre, wenn er ihn zu den schönsten Edelsteinen dazugelegt hätte. Jedoch half ihm der Zauberstab bisher in keinster Weise, den geeigneten Schlüssel zu finden. Enttäuscht verließ Kasim die Schatzkammer.

Nun durchsuchte er das ganze Schloß und drang sogar bis in die letzte Dachkammer vor. Aber alles Suchen war vergebens, er konnte den richtigen Schlüssel einfach nicht finden. In der obersten Dachkammer sank er schließlich zu Boden und blieb erschöpft liegen. Nach einem tiefen Seufzer schweiften seine Blicke vom Türrahmen zur Decke und blieben an einer kleinen Dachluke hängen. Von dort fielen ein paar Lichtstrahlen direkt auf sein Gesicht. Ganz zufällig ließ er den Zauberstab durch seine Finger gleiten und entdeckte dabei ein paar hübsche Lichtspiele. Interessiert kniff er sein linkes Auge zusammen und schaute mit seinem rechten Auge der Länge nach durch den Zauberstab, der nun in einem tiefen rot erleuchtete. Da kam ihm plötzlich ein Gedankenblitz. Wenn er den Zauberstab als das Schlüsselloch interpretierte, dann konnte man sich das Licht als den Schlüssel vorstellen. War vielleicht ein Lichtstrahl der Schlüssel zum Relativen Raum? Hocherfreut eine erste brauchbare Idee zu haben, stürzte er die Treppen hinunter in die Bibliothek zum Zauberer und keuchte außer Atem: "Ist vielleicht das Licht der Schlüssel zum Relativen Raum?"

Leonardus lächelte zufrieden und wiederholte noch einmal mit etwas präziseren Worten: "Richtig, das Licht - oder genauer gesagt, der "Absolutheitscharakter" des Lichtes - ist der Schlüssel zum Relativen Raum. Ich werde dir diese Aussage nun Schritt für Schritt erklären."

"Jetzt bin ich aber sehr neugierig", entgegnete Kasim und setzte sich erleichtert neben den Zauberer.

 

Absoluter und Relativer Raum

Der Zauberer lehnte sich in seinem Stuhl zurück und begann mit der ersten Lektion: "Wir "Erdlinge" sind so sehr an den uns umgebenden dreidimensionalen Raum gewöhnt, daß wir uns kaum etwas anderes vorstellen können. Im täglichen Leben ist unsere räumliche Vorstellung von Länge, Breite und Höhe natürlich völlig korrekt. Gehen wir aber zu sehr kleinen oder sehr großen Dimensionen über, so müssen wir über die Begriffe "Raum" und "Zeit" grundlegend nachdenken."

"Ich stelle mir den Raum überall gleichartig vor!" platzte es aus Kasim heraus.

"Diese Auffassung hat sich aber seit dem Beginn des 20ten Jahrhunderts als falsch herausgestellt. Der Raum ist nicht überall gleichartig, insbesondere dann nicht, wenn wir subatomare beziehungsweise kosmische Dimensionen betrachten. Genau dann treten noch zusätzliche Effekte auf, die wir aus der täglichen Erfahrung nicht kennen und für die wir Menschen keine Sinnesorgane entwickelt haben."

"Da mußt Du mir erst ein paar Beispiele nennen!"

"Gut! Dann laß uns mit den kosmischen Dimensionen anfangen. Raum und Zeit können gedehnt oder geschrumpft erscheinen, ein Effekt, der aus der speziellen Relativitätstheorie bekannt ist und den man am eigenen Körper nicht spüren kann. Albert Einstein gehörte zu einer der Ersten, die sich dazu Gedanken machten. Wie wir noch sehen werden, änderte er die damalige Vorstellung von Raum und Zeit radikal."

Kasim konnte sich noch gar nichts vorstellen, weder die damalige noch die heutige Vorstellung.

"Fang doch erst mal mit der damalige Vorstellung an. Die ist bestimmt leichter!" bat Kasim.

"Das hatte ich sowieso vor", entgegnete Leonardus und bemühte sich, nicht sein Konzept zu verlieren. Dann fuhr er fort: "Noch bevor Einstein auftrat, glaubte man, daß es einen "absoluten Raum" gibt, in dem die "absolute Zeit" - unabhängig von diesem Raum - dahinfließt. Außerdem glaubte man an die Möglichkeit, die Bewegung der Erde gegenüber diesem absoluten Raum feststellen zu können."

"Was ist ein absoluter Raum?" fragte Kasim dazwischen.

"Wie der Name "absolut" bereits vermuten läßt, muß ein solcher Raum eine besondere Stellung gegenüber allen anderen Räumen einnehmen. Um dir das zu verdeutlichen, hole ich noch etwas weiter aus. Vor Kopernikus war man der Auffassung, die Erde sei der Mittelpunkt des Universums. Die Erde hatte demnach eine - vor allen anderen Himmelskörpern - ausgezeichnete Position und man bezog deswegen die Bewegung der Sonne und der Sterne auf die Erde."

"Heißt das, daß nach dieser Auffassung die Erde eine absolute Position inne hatte?" wiederholte Kasim den Gedankengang und freute sich, daß er dem Zauberer jetzt folgen konnte.

"Richtig, genau das glaubten die Leute vor Kopernikus. Dieses Weltbild, das auf Ptolemäus zurückgeht, bezeichnet man demnach als das geozentrische Weltbild. Den nächsten Schritt machte Kopernikus, der glaubte, die Sonne wäre der Mittelpunkt. Das Zeitalter des heliozentrischen Weltbildes war angebrochen. Zu Einsteins Zeit wußte man natürlich schon, daß weder die Erde noch die Sonne das Zentrum des Universums ist, jedoch glaubte man immer noch, daß die Bewegung aller Himmelskörper auf eine absolute Position, beziehungsweise den "absoluten Raum", bezogen werden kann. Wenn du willst, stelle dir den Mittelpunkt des Universums, wo auch immer er sein mag, als eine Möglichkeit einer absoluten Position vor."

"Gab es noch andere Eigenschaften, über die der absolute Raum verfügen sollte?" wollte Kasim wissen.

"Ja, man überlegte sich damals welche "Substanz" für den Transport des Lichtes verantwortlich ist. Für Schallwellen ist diese Substanz beispielsweise die Luft. Sie ist das Medium, in welchem die Schallwelle schwingt und auf diese Weise dein Ohr erreicht. Für Einstein und seine Zeitgenossen stellte sich die Frage: Welche Substanz transportiert die Lichtwellen, beispielsweise von der Sonne bis zur Erde? Man nannte diese hypothetische Substanz "Äther" und glaubte, dieser würde den absoluten Raum ausfüllen und in ihm ruhen."

"Kann ich mir das so vorstellen, daß die Erde - auf ihrem Weg um die Sonne - durch den Äther beziehungsweise den absoluten Raum gleitet?"

"Richtig, das war die damalige Vorstellung. Um diese zu prüfen, überlegte man sich ein Experiment, das ich dir anhand eines analogen Beispiels erklären möchte. Stell dir vor, du stehst im Wind, der dir mit konstanter Geschwindigkeit entgegen bläst!"

"Das kann aber ganz schön unangenehm werden!"

"Nicht, wenn du dir einen warmen Mantel anziehst und zwei Freunde mitnimmst, die dir zur Seite stehen. - Zusammen habt ihr euch folgendes Experiment ausgedacht: Beide Freunde stellen sich in exakt gleichem Abstand vor beziehungsweise hinter dir auf, einer auf der windzugewandten und der andere auf der windabgewandten Seite. Nun rufst du beiden Freunden etwas zu. Welche Schallwelle erreicht das Ohr des entsprechenden Freundes schneller?"

"Diejenige, welche in Windrichtung gesprochen wurde, weil sie der Wind dort schneller hinträgt."

"Gut erkannt! Das Experiment, welches Michelson und Morley durchführten, um zu prüfen, ob der Äther tatsächlich existiert, war ähnlich. Jedoch verwendeten sie Lichtwellen, anstatt Schallwellen und nutzten die Bewegung der Erde um die Sonne aus. Da die Erde genau einen Umlauf pro Jahr vollzieht, bewegt sie sich nach einem halben Jahr genau in entgegengesetzter Richtung. Gleitet die Erde durch den Äther, so müßte sich die Geschwindigkeit des Lichtes - je nach Jahreszeit - ändern, so wie sich die Geschwindigkeit des Schalls ändert, wenn du in unterschiedliche Richtungen rufst. Es wurde von Michelson und Morley aber nie ein Unterschied in der Lichtgeschwindigkeit festgestellt."

"Bedeutet das, daß die Lichtgeschwindigkeit immer gleich groß war?"

"So ist es! Als Einstein von diesem Experiment erfuhr, gab es für ihn nur eine Schlußfolgerung: Wenn es schon nicht möglich war, den Äther nachzuweisen, in dem sich das Licht fortbewegen sollte, dann war dieser Äther ein Hirngespinst, genauso wie der dazugehörige "absolute Raum". Für Einstein waren Raum und Zeit sowieso nur relative Größen."

"Das verstehe ich nicht! Warum spielt es denn überhaupt eine Rolle, ob man den Raum als etwas "Absolutes" oder etwas "Relatives" betrachtet?" wandte Kasim ein, denn er glaubte verstanden zu haben, was der Unterschied zwischen einer relativen und einer absoluten Position ist, aber warum das etwas bei den physikalischen Gesetzen bewirken sollte, war ihm schleierhaft.

"Es ergeben sich ganz einfach Widersprüche, wenn man die Existenz eines absoluten Raumes annimmt und alle physikalischen Erscheinungen, wie beispielsweise die Lichtausbreitung, auf diesen Raum bezieht. Du wirst bald lernen, daß es genau dann Schwierigkeiten gibt, wenn hohe Geschwindigkeiten addiert werden oder wenn es darum geht, zu entscheiden, ob zwei Ereignisse gleichzeitig stattgefunden haben. All diese Probleme werden gelöst, wenn man den Raum und die Zeit als relative, das heißt veränderliche und die Lichtgeschwindigkeit als absolute, das heißt konstante Größe betrachtet."

"Deswegen hattest du vom "Absolutheitscharakter" des Lichtes gesprochen, als ich mich auf die Suche nach dem Schlüssel zum "relativen Raum" gemacht hatte", erinnerte sich Kasim.

"Ich sehe, du hast aufgepaßt!" freute sich Leonardus. "Die Theorie, die sich hinter relativem Raum und Zeit, beziehungsweise absoluter Lichtgeschwindigkeit verbirgt, ist unter dem Namen "Spezielle Relativitätstheorie" bekannt und ich werde sie dir anhand von Beispielen Schritt für Schritt erläutern."





Auszug aus Kapitel 4

Teil 4 (Kosmologie)

Kasim hatte in dieser Nacht im Schloß des Zauberers übernachtet und von Katzen geträumt. Dabei war er sich sicher, daß ihm nur lebendige Katzen begegnet waren und nicht etwa Schrödinger-Katzen in gemischten Zuständen. Am Frühstückstisch wollte er noch einmal hören, wie Quantentheorie und Realität zusammenpassen.

"Eine Theorie ist doch erst dann gut, wenn sie die Realität richtig wiedergibt?" fing Kasim eine Diskussion an.

"Da hast du zweifelsohne recht!" antwortete Leonardus.

"Beschreibt die Quantentheorie die Realität richtig?"

"Ja, das tut sie!" Der Zauberer war sich da ganz sicher. "Die Stärken der Quantentheorie liegen in der richtigen Beschreibung der atomaren Welt. Schließt man noch zusätzlich die Umgebung in die quantenmechanische Rechnung ein, oder anders ausgedrückt, geht man von atomaren zu alltäglichen Dimensionen über, dann werden auch "große", das heißt klassische Objekte wie Staubpartikel, oder Katzen richtig beschrieben. An der Quantentheorie führt also kein Weg vorbei. Sie hat sich bisher in allen Experimenten bestätigt."

"Dann müßten die Wissenschaftler jetzt nach keiner neuen Theorie mehr forschen, oder?" schloß Kasim.

"Die Quantenmechanik kann nicht alle Phänomene erklären. Wenn man beispielsweise Raum und Zeit beschreiben möchte, benutzt man die Relativitätstheorie."

"Gibt es eine Theorie, die beides vereint?"

"Ja! Sie heißt Quantengravitationstheorie und verbindet die Quantenmechanik mit der Gravitationstheorie. Bevor wir uns an sie heranwagen, möchte ich noch ein paar andere interessante kosmologische Themen behandeln, die mit ihr zusammenhängen."

Kasim’s Neugier war geweckt. "Was zum Beispiel?"

"Laß uns mit dem Ursprung der physikalischen Zeitrichtung im Universum beginnen", schlug Leonardus vor.

 

Der Ursprung der physikalischen Zeitrichtung im Universum

"Hast du nicht gesagt, daß die Zeit etwas Relatives ist?" war Kasims erste Idee.

"Das stimmt natürlich! Eine Uhr kann in zwei verschiedenen Bezugssystemen unterschiedlich schnell ticken. Jedoch haben wir bisher nie daran gezweifelt, daß sie immer nur vorwärts geht. Auf den ersten Blick ist aber unklar, warum die Zeit nicht auch rückwärts laufen kann. Bis auf eine einzige Ausnahme gelten alle Grundgesetze der Physik auch dann, wenn die Zeit umgekehrt läuft. Es stellt sich demnach die Frage: Warum beobachten wir nicht Vorgänge ähnlich wie in einem rückwärts laufenden Film?"

"Dann müßte eine Tasse Tee, nachdem sie vom Tisch gefallen und in tausend Stücke zersprungen ist, sich wieder zusammenfügen und samt Tee auf den Tisch zurückspringen", lachte Kasim laut auf.

"Ganz richtig! Genau diesen Vorgang erlauben die Grundgesetze der Physik!" bestätigte Leonardus. "Es gibt zwar den zweiten Hauptsatz der Wärmelehre, der das Zurückspringen der Tasse verbietet, jedoch zählt dieser Satz nicht zu den Grundgesetzen der atomaren Welt, sondern beschreibt lediglich eine Erfahrungstatsache in unserem täglichen Leben. Selbst wenn man den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik für eine Zeitrichtung verantwortlich machen würde - in unserem Fall für das Herunterfallen der Teetasse – wissen wir immer noch nicht, wo der Ursprung dieses Satzes begründet liegt!"

"Gibt es denn außer der Wärmelehre noch andere Hinweise für eine Zeitrichtung?"

"Aus der Kosmologie! Ich habe dir schon viel über Schwarze Löcher erzählt. Die zeitgespiegelten Objekte sind die sogenannten "Weißen Löcher". Sie zeichnen sich dadurch aus, daß nichts durch ihren Horizont eindringen, wohl aber heraustreten kann! Da Weiße Löcher noch nie beobachtet wurden, ist dadurch eine Zeitrichtung ausgezeichnet. Ein weiterer Hinweis ist die Expansion des Universums, vom Urknall ausgehend, von dem wir das "Echo", die "3-Kelvin-Hintergrundstrahlung", noch heute beobachten können. Weil die Expansion für das gesamte Universum gilt, wurde der Begriff des "Ur-Zeitpfeils" geschaffen, welcher allen anderen Zeitpfeilen seine Richtung aufprägt."

Das waren für Kasim zu viele neue Begriffe auf einmal. "Ganz langsam! Hierzu habe ich gleich zwei Fragen: Erstens, was verstehst du unter dem Urknall und zweitens, was meinst du mit den Zeitpfeilen?"

"Die heutige Vorstellung der Naturwissenschaft ist, daß das Universum mit dem Urknall seinen Anfang nahm. Auch wenn der Vergleich hinkt, so stelle dir vor, daß die gesamte Masse des Universums zum Zeitpunkt Null in einer gewaltigen Ur-Explosion auseinanderflog. Von dieser Explosion ist eine einheitliche Strahlung von drei Grad Kelvin, das heißt drei Grad über dem absoluten Nullpunkt, übriggeblieben, die als 3-Kelvin-Hintergrundstrahlung bezeichnet wird."

"Warum hinkt der Vergleich?"

"Im Kapitel über die Quantengravitation werden wir sehen, daß Raum und Zeit kurz nach dem Urknall nicht in der Form existierten, wie wir sie heute erleben. Von einem Zeitpunkt Null, oder einer Explosion zu sprechen, ist deswegen nur eine Hilfe für unsere Vorstellung."

"O.k. und was verstehst du unter einem Zeitpfeil?" wiederholte Kasim seine zweite Frage.

"Ein Zeitpfeil gibt die Richtung an, in die ein Prozeß läuft. In dieser Terminologie würde man den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik als den thermodynamischen Zeitpfeil bezeichnen. Sein Ursprung ist jedoch der Ur-Zeitpfeil."

"Ich habe im Schulunterricht schon mal vom zweiten Hauptsatz der Thermodynamik gehört, kannst du ihn trotzdem kurz wiederholen?" bat Kasim.

 

Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik

"Der Physikunterricht hat dir in der Schule wohl kein Spaß gemacht?" musterte Leonardus seinen Schüler. "Aber das können wir schnell nachholen. Ich fange am besten beim ersten Hauptsatz an. Er besagt, daß die Summe aller Energien in einem abgeschlossenen System immer gleich bleibt. Insbesondere ist es möglich, verschiedene Energieformen ineinander umzuwandeln, beispielsweise kinetische Energie in Reibungsenergie und schließlich in Wärmeenergie. Laut erstem Hauptsatz ist auch die umgekehrte Richtung erlaubt, nämlich das Umwandeln von Wärmeenergie in kinetische Energie, und zwar vollständig. Genau hier setzt der zweite Hauptsatz der Thermodynamik an! Um dir ein Beispiel zu nennen: Die Reibung eines abbremsenden Wagens erzeugt Wärme in den Rädern und auf der Straße, jedoch wird der abgebremste Wagen niemals von alleine die erzeugte Wärmeenergie nutzen und wieder in die verlorengegangene kinetische Energie des Wagens zurückführen."

"Das klingt ja logisch!"

"Es ist aber nichts anderes als eine Erfahrungstatsache, die im zweiten Hauptsatz der Thermodynamik formuliert ist. Mit anderen Worten, der zweite Hauptsatz gibt an, in welche Richtung die Reaktionen laufen. Diese zentrale Aussage findet sich in verschiedenen Formulierungen des Satzes wieder."

Kasim wollte noch mehr wissen. "Wie lauten die anderen Formulierungen?"

"Eine besagt, daß man Wärme nie vollständig in Arbeit umwandeln kann, sondern höchstens teilweise, vorausgesetzt man stellt sich geschickt an. Im Beispiel des abgebremsten Wagens haben wir uns aber zu dämlich angestellt! Hier kann die erzeugte Wärme nicht zum Beschleunigen des Wagens zurückgewonnen werden."

"Dann nenne mir doch ein einfaches Beispiel, bei dem die Umwandlung von Wärme in Arbeit gelingt?"

"Eine Dampfmaschine! Du erhitzt Wasser, bis es verdampft und benutzt den Druck des Wasserdampfs, um eine mechanische Bewegung, beispielsweise den Antrieb eines Rades, zu erzeugen", antwortete der Zauberer schlagfertig.

"Dann geht es ja doch, die ganze Wärme in Arbeit umzuwandeln!"

"Nein! Nicht die ganze Arbeit! Die meiste Wärme geht an die Umgebung verloren. Nur einen Teil der Wärme kann man in mechanische Arbeit verwandeln", stellte Leonardus richtig.

 

Die Entropie

Entropie und zweiter Hauptsatz

"Kannst du mir noch eine weitere Formulierung des zweiten Hauptsatzes nennen", bat Kasim, dem diese Lektion jetzt richtig Spaß machte.

"Gerne! Man benutzt häufig den Begriff der Ordnung, beziehungsweise Unordnung. So formuliert besagt der zweite Hauptsatz, daß die Unordnung in einem abgeschlossenen System immer nur zunehmen kann. Am Beispiel des abgebremsten Wagens würde man das Fahren als die geordnete, da alle Atome in eine Richtung fahren, und die erzeugte Wärme als die ungeordnete Bewegung bezeichnen, da die erwärmten Atome sich regellos in alle Richtungen bewegen. Der thermodynamische Zeitpfeil zeigt hier eindeutig von der geordneten zur ungeordneten Bewegung. Die Physiker haben in diesem Zusammenhang den Begriff "Entropie" geprägt, welcher ein Maß für "Unordnung" ist. Je höher die Unordnung, desto größer ist die Entropie. Der abgebremste Wagen hat demnach eine höhere Entropie, als der fahrende Wagen. Nun läßt sich der zweite Hauptsatz auch knapp und bündig ausdrücken: Die Entropie eines abgeschlossenen Systems kann immer nur zunehmen, was bedeutet, daß niemals von alleine Ordnung entstehen kann."

Kasim fiel sofort ein weiteres Beispiel ein. "Für mein Zimmer trifft das sicher zu, aber was nützt mir diese Anschauungsweise?"

"Es lassen sich mit diesem Begriff grundlegende Dinge diskutieren. Betrachten wir das gesamte Universum als abgeschlossenes System, dann kann die Entropie immer nur zunehmen. Dies setzt aber voraus, daß es am Anfang einen weitaus geordneteren Zustand gab, als wir ihn heute vorfinden. An dieser Stelle können wir wieder mit der Diskussion über den Ursprung der physikalischen Zeitrichtung fortfahren. Um darüber Aussagen zu machen, müssen wir in unsere Betrachtung das gesamte Universum einbeziehen und die Anfangsbedingung des Universums kennen."

"Was meinst du damit?" grübelte Kasim.

"Das ganze Universum betrachten heißt, die Quantengravitationstheorie anwenden und eine geeignete Anfangsbedingung für die quantenkosmologische Wellenfunktion finden."

 

Entropie und Kosmos

Kasim stöhnte. "Kannst du dich auch etwas weniger geschwollen ausdrücken? Mit quantenkosmologischer Wellenfunktion meinst du wahrscheinlich Hawking‘s Gesamtwellenfunktion des Universums?"

"Natürlich!"

"Und wie sieht die Anfangsbedingung aus?" schob Kasim nach.

"Diese Fragestellung ist gerade Thema deiner Zeitgenossen. Da ihnen das vollständige Verständnis der Quantengravitation noch fehlt, möchte ich nicht alles verraten. Erwähnenswert ist, daß es eine simple Anfangsbedingung sein muß und daß der Begriff Dekohärenz erneut auftaucht. Zunächst zum letzteren: Ich hatte gesagt, daß kurz nach dem Urknall Raum und Zeit nicht in der Form existierten, wie wir sie heute erleben. Da wir aber jetzt in der Raumzeit leben, muß sie nach dem Urknall irgendwann entstanden sein. Eine Erklärungsmöglichkeit für das Auftauchen der klassischen Raumzeit ist das Auftreten von Dekohärenz."

"Das mußt du mir genauer erläutern!"

"Die Dekohärenz war bereits verantwortlich für die Entstehung klassischer Eigenschaften eines beliebigen Objektes, beispielsweise eines Staubpartikels, aus der Quantenmechanik. Übertragen wir nun die gleichen Gedanken auf den gesamten Kosmos, so sorgt das Auftreten der Dekohärenz für die Entstehung der klassischen Raumzeit. Hier drängt sich sofort eine Gemeinsamkeit auf. Sowohl im "Kleinen" (Entstehung eines Staubpartikels), als auch im "Großen" (Entstehung von Raumzeit im Universum) gibt es eine Richtung, in welche alle Reaktionen laufen. Dies führt uns wieder zurück zum Begriff der Entropie."

Für Kasim war das alles noch nebulös. "Was hat die Dekohärenz jetzt mit der Entropie zu tun?"

"Das Auftreten von Dekohärenz bedeutet Kopplung an die Umgebung. Je stärker die Kopplung, desto größer die Wechselwirkung, beziehungsweise der Austausch mit der Umgebung, und damit die Möglichkeit aus einem geordneten Zustand einen ungeordneten zu machen. Dies bedeutet nichts anderes als eine Entropiezunahme..."

"Wieso wird bei höherer Wechselwirkung mehr Unordnung erzeugt?" unterbrach Kasim.

"Solange ein Kind in seinem Zimmer ruhig dasitzt, bleibt alles in Ordnung. Wenn es aber herumtobt, das heißt mit der Umgebung wechselwirkt, dann entsteht Unordnung", überlegte der Zauberer ein anschauliches Beispiel.

"Du springst ständig von der atomaren Welt zu alltäglichen Dimensionen, oder zu kosmischen Maßstäben und umgekehrt", beklagte sich Kasim.

"Damit möchte ich dir doch nur zeigen, daß alles miteinander zusammenhängt. Eine niedrige Entropie am Anfang des Universums paßt gut zu einer simplen Anfangsbedingung für die quantenkosmologische Wellenfunktion. Die Expansion des Universums, die Entstehung klassischer Eigenschaften aus der Quantenmechanik und der zweite Hauptsatz der Thermodynamik haben somit einen gemeinsamen Ursprung."

Kasim setzte seine Kritik fort. "Mir klingt das alles viel zu theoretisch. Ich habe bisher zwar eine Idee bekommen, daß Quantenmechanik, Thermodynamik und Kosmologie etwas miteinander zu tun haben könnten, ein lebenswichtiges Beispiel habe ich aber heute von dir noch nicht gehört!"

"Das will ich gleich nachholen! Vielleicht hast du dich schon mal gefragt, warum es geordnete Strukturen, wie beispielsweise das Leben hier auf unserer Erde, gibt? Alles müßte doch in eine immer größer werdende Unordnung geraten!"

"Und warum tut es das nicht?"

"Ein wesentlicher Punkt ist der, daß die Gene, unsere Erbinformation, im Zusammenspiel mit vielen biochemischen Reaktionen, dazu beitragen, einen höchst geordneten Zustand aufrechtzuerhalten. Die Pflanzen, die Tiere und die Menschen sind Paradebeispiele für hoch geordnete Zustände. Zum Beispiel trägt unsere Nahrung wichtige Information in Form von Aminosäuren, den zwanzig Bausteinen des Lebens, welche von den Genen so gesteuert werden, daß geordnete Strukturen – wie Korn, Reis... – entstehen. Die Nahrung stellt also nicht nur Energie für unseren Körper zur Verfügung, sondern auch Information. Wie wir noch sehen werden, sind die Begriffe Information und Entropie eng miteinander verknüpft. Die Entropie ist folglich eine genauso entscheidende Größe für unsere Existenz wie die Energie."

"Wenn wir schon beim Leben sind, dann erkläre mir jetzt wie die Gene ursprünglich entstanden sind?" forderte Kasim seinen Mentor auf.

"Dann interessiert dich die Frage, wie die Grundbausteine des Lebens entstanden sind?"

"Ja, genau das meine ich", bestätigte Kasim.

"Dazu gibt es Experimente, welche die Anfangsbedingungen auf unserer Erde simulieren. Es kam dabei heraus, daß aus einfachen Atomen und Molekülen tatsächlich komplexere Moleküle entstehen."

"Und warum ist das so?"

"Ein wesentlicher Grund der Vielfalt aller Atome und Moleküle liegt in den quantenmechanischen Gesetzen begründet. Ich hatte Sitara von der Pauli-Regel in der Quantenmechanik erzählt. Solche Auswahlregeln bestimmen die Vielfalt der atomaren Welt!"

"Daß du es doch immer schaffst, alle Erscheinungen auf ein paar Grundgesetze zu reduzieren! Und trotzdem – die Vielfalt des Lebens kann man doch nicht mit einer Hand voll physikalischer Gesetze erklären!" gab Kasim zu Bedenken.

"Da hast du sicher recht! Jedoch sind sie die Grundlage, auf der alles andere aufbaut. Es gibt nur wenig fundamentale Gesetze und daraus leiten sich weitere Gesetze ab, die immer komplexer werden, von physikalischen zu biologischen und schließlich zu gesellschaftlichen Gesetzen. Ich behaupte nicht mehr und nicht weniger als daß die Physik die Grundlage darstellt. Was sie natürlich niemals leisten kann, ist, den Ursprung allen "Seins" zu erklären."

"Du meinst, was vor dem Urknall war?"

"Nicht genau. Die Frage, was vorher oder kurz nachher war, ist falsch gestellt! Weder Raum noch Zeit waren kurz nach dem Urknall vorhanden, sondern mußten erst entstehen. Demnach können wir auch nicht fragen, was vorher oder nachher war. Die Frage müßte lauten: Wieso gibt es das Universum überhaupt? Aber ich fürchte, diese Frage wird uns niemand beantworten."

"Ich denke, das ist auch gut so!" resümierte Kasim. "Wir müssen ja nicht jede Frage beantworten können! Was mich aber noch interessieren würde, wäre der Zusammenhang zwischen Information und Entropie. Ich glaube, ich habe dich da unterbrochen."

 

Entropie und Information

Der Zauberer lehnte sich in seinem Stuhl zurück. "Richtig, das steht noch aus. Die Entropie ist nicht nur ein Maß für Unordnung, wie ich anhand des abgebremsten Wagens aufzeigte, sondern sie läßt sich auch als ein Maß für Unkenntnis, oder als ein Grad für Unbestimmtheit deuten. Und diese Begriffe haben wiederum etwas mit "Information" zu tun. Mein Ziel ist es, für den Grad der Unbestimmtheit eine möglichst einfache Funktion zu finden, die angibt, wieviel Information in einem System steckt."

"Wie findest du eine solche Funktion?"

"Ich fordere von dieser "Informationsfunktion" drei Bedingungen. Erstens: Wenn ein Ereignis mit Sicherheit eintritt, dann ist, nach Eintreten des Ereignisses, der Informationsgewinn gleich Null."

"Kannst du mir ein Beispiel nennen?" bat Kasim.

"Das einfachste System ist eine Münze. Wenn sowohl auf der Vorder- als auch auf der Rückseite die gleiche Information eingraviert ist, zum Beispiel "Zahl", wird sie nach einem Wurf immer "Zahl" aufweisen! Das heißt, durch das Werfen habe ich keine Information gewonnen."

"Gut, und die zweite Bedingung?"

"Je unwahrscheinlicher ein Ereignis ist, umso größer ist die gewonnene Information beim Eintritt des Ereignisses."

"Kannst du mir auch dazu ein Beispiel nennen?"

"Für eine Münze ist die Wahrscheinlichkeit mit der entweder Kopf oder Zahl auftritt ˝, während sie beim Würfel 1/6 ist, da es sechs Zahlen gibt und alle mit der gleichen Wahrscheinlichkeit auftreten. Mit anderen Worten, es ist unwahrscheinlicher mit einem Würfel "6" zu werfen, als mit einer Münze "Zahl". Weiterhin ist der Informationsgehalt eines Würfels größer – er hat sechs verschiedene Zahlen – als der einer Münze – sie hat zwei verschiedene Seiten. Beim Werfen eines Würfels sind demnach nicht nur die zu erwartenden Ereignisse unwahrscheinlicher, sondern sie bergen auch mehr Information, im Vergleich zum Münzwurf."

"Und die dritte Bedingung?"

"Treten zwei unabhängige Ereignisse auf, so soll sich die Information addieren. Im Würfelbeispiel trägt jeder Wurf, unabhängig vom vorangegangenen Wurf, gleich viel Information und sie kann addiert werden. Gleiches gilt für den Münzwurf."

Kasim sah noch keinen Zusammenhang. "Und was soll das ganze?"

"Für den Münzwurf, oder das Würfeln, oder jedes beliebige System läßt sich nun eine Informationsfunktion angeben, die den Informationsgehalt eines Ereignisses mißt. Die Funktion, die alle drei soeben genannten Bedingungen erfüllt, ist die natürliche Logarithmusfunktion multipliziert mit einer Konstanten."

"Da wäre ich nicht draufgekommen", gestand Kasim.

"Die Formel E = m · c2 sieht ähnlich einfach aus und nur Einstein hat sie gefunden. Es geht mir nicht darum, ob du solche Formeln erfindest, sondern, daß du verstehst, wie sie entstehen und wie man sie anwendet", stellte Leonardus klar.

"Genau! Ich weiß jetzt immer noch nicht, was man mit dieser Logarithmus dings bums Funktion alles machen kann", bemerkte Kasim treffend.

"Eine solche Logarithmusfunktion beschreibt sowohl den Informationsgehalt, als auch den Entropiegehalt eines Systems", dozierte Leonardus. "Information und Entropie sind somit eng miteinander verknüpft."

"Kannst du mir ein Beispiel nennen?"

"Für das System Würfel heißen die beiden Zustände "Kopf" und "Zahl". Da es sich um zwei mögliche Zustände handelt, setzt du den Wert "2" in die Logarithmusformel ein und erhälst das Ergebnis."

Kasim war das noch zu wenig. "Und wie soll ich mir den Zusammenhang zum abgebremsten Wagen vorstellen?"

"Sämtliche Atome des Wagens, der Straße und der gesamten Umgebung befinden sich in bestimmten Zuständen, die durch quantenmechanische Regeln vorgegeben sind. Um die Entropie des Wagens zu berechnen, mußt du die Anzahl aller möglichen Zustände aufsummieren, die die beteiligten Atome einnehmen können."

"Es ist doch sicher unmöglich, von allen Atomen die Zustände zu kennen!"

"Das muß man auch gar nicht!" erklärte Leonardus. "Es ist nicht nötig, genau zu wissen, in welchem Zustand jedes einzelne Atom ist, sondern man muß nur die gesamte Anzahl der möglichen Zustände kennen."

"Sind die für einen bremsenden Wagen nicht immer gleich?" spekulierte Kasim.

"Nein! Durch das Abbremsen werden die Atome der Räder und der Straße erwärmt, was bedeutet, daß sie in höhere Energieniveaus angeregt werden, und das heißt eine Zunahme der möglichen Zustände."

"Es gibt also mehr Zustände für den abgebremsten Wagen als für den fahrenden?"

"Vollkommen richtig! Beim Abbremsen eines Wagens nimmt die Anzahl der möglichen Zustände der beteiligten Atome und damit die Entropie zu. Und hier sind wir wieder beim zweiten Hauptsatz der Thermodynamik angelangt. Die Entropie eines abgeschlossenen Systems kann immer nur zunehmen. Betrachten wir den Wagen und seine Umgebung (die Straße, die Luft ...) als abgeschlossenes System, dann hat die Entropie zugenommen. Weiten wir diesen Gedankengang auf das gesamte Universum aus und betrachten es als ein abgeschlossenes System, so kann die Entropie und damit die Anzahl der möglichen Zustände aller Atome immer nur ansteigen. Beim Urknall muß die "Ursuppe" – da gab es noch keine Atome – eine vergleichsweise geringe Anzahl von möglichen Zuständen gehabt haben. Die Formulierung eines "Ur-Zeitpfeils" bekommt hier wieder ihre Berechtigung."

Kasim staunte. "Die Entropie scheint ja ein sehr allgemeines Prinzip zu sein!"

"Nicht nur das! In der Kosmologie greifen alle fundamentalen Prinzipien auf wundersame Weise ineinander. Da die Welt "gequantelt" ist, kann man die Zustände abzählen und die Entropie des gesamten Universums abschätzen. Quantenmechanische und thermodynamische Prinzipien fließen hier zusammen!"

"Mir sind die Zusammenhänge der verschiedenen Theorien jetzt schon wesentlich klarer als zuvor!" lobte der Schüler seinen Lehrer. "Trotzdem wäre mir jetzt eine Teepause lieber."

"Das ist eine glänzende Idee! Ich vergesse immer die Zeit, wenn es spannend wird!" gab Leonardus zu.

Nachdem sie in der Küche einen kräftigen Schwarztee zubereitet hatten, liefen sie gemeinsam in den Schloßgarten. Es war der ideale Ort, sich zu entspannen. Der Duft orientalischer Gewächse lag in der Luft und auch der Tee beflügelte ihre Gedanken.

"Deine Eltern werden dich langsam vermissen", begann der Zauberer, als sie den Tee ausgetrunken hatten. "Deswegen solltest du dich hin und wieder zuhause blicken lassen."

"Gerade jetzt, wo es so interessant wird?"

"Deine Eltern machen sich sonst Sorgen, denn sie dürften inzwischen aus ihrem Urlaub zurück sein. Du kannst ja gleich morgen wiederkommen", stellte Leonardus in Aussicht.

Kasim’s Stimme senkte sich. "Wenn du meinst."

"Ja, ich glaube, wir sollten nichts riskieren."

"Na schön", gab Kasim nach. Weniger aus Überzeugung, sondern eher aus Notwendigkeit. "Aber du mußt mir noch verraten, was morgen dran ist?"

"Morgen geht es um die vier fundamentalen Kräfte."

"Wie kann es bei dir auch etwas anderes als "Fundametales" sein", stichelte Kasim und verabschiedete sich herzlich von seinem Lehrmeister. Dann reiste er seiner Heimat entgegen.

Kasims Eltern waren tatsächlich aus ihrem Urlaub zurück und fragten sofort nach Sitara. Da die Schulferien noch nicht zu Ende waren, konnte er sie von Sitaras Verlängerung des "Schwarzwaldaufenthaltes" überzeugen.